Im März 2015 wurde der lange überfällige Abriss und Neubau einer Betonbrücke in Lübeck in Angriff genommen. Als Umsetzungszeitraum wurden zwei Jahre angesetzt. Das Projekt darf ohne Untertreibung als "business as usual" bezeichnet werden. Keine Schnörkel, keine Weltrekorde, keine Experimente. Ein Projekt also, dass reibungslos verlaufen sollte. Eigentlich.
Freigegeben für den Verkehr wurde die Brücke in Lübeck letztendlich am 30.10.2019, also mit einer Verzögerung gegenüber dem ursprünglichen Plan von 2 1/2 Jahren. Auch die Projektkosten waren erheblich höher als initial geschätzt.
Ist das nicht verwunderlich, bei einem Gewerk, das auf über mehr als hundert Jahre Erfahrung zurückgreifen kann? Warum ist es so schwer, selbst in so einem Fall einen Plan aufzustellen, der mehr oder weniger 1:1 umgesetzt werden kann?
Eine Brücke ist in der Regel ein Unikat. Mir sind keine zwei Straßenbrücken bekannt, die identisch sind. Selbst wenn sie es wären, die Umgebungen, in denen sie gebaut werden, sind andere. Damit gibt es technische und logistische Herausforderungen, die bei jedem Bau andere sind. In Lübeck war dies zum einen der sandige und sumpfige Grund, der die Gründung der Brücke erschwert hat, zum anderen war die Brücke Teil einer zentralen Verkehrsader Lübecks. Daraus leitete sich der Wunsch des Auftragsgebers ab, bereits während der Bauzeit einen einspurigen Verkehr zu ermöglichen. Und dann waren da noch etliche kleine und große Nicklichkeiten in der Zusammenarbeit zwischen Bauherr und Auftragnehmer.
Die Komplexität eines Projekts ergibt sich nicht allein aus der Komplexität der Materie, sondern auch und gerade durch die Komplexität der Umgebung. Genügend Ansatzpunkte, damit etwas anders kommt als gedacht. Insbesondere wenn man diese Punkte nicht im Blick hat. Das ist ein wesentlicher Unterschied zwischen erfolgreichen Bauprojekten und weniger erfolgreichen. Die situative Reaktion eines Bauteams auf unerwartete Wendungen, die Kooperation aller Beteiligten, der Wille, für ein Ziel auch mal einen Plan aufzugeben, ist für den Erfolg eines einmaligen Bauprojekts auch nach tausenden Jahren Baugeschichte immer noch wichtiger als alles andere.
Wenn dies also bei Ingenieursaktivitäten gilt, die untrennbar mit der Geschichte der Zivilisation der Menscheit verbunden sind, um wieviel mehr gilt dies bei Softwareprojekten, die es gerade einmal seit gut 80 Jahren gibt. Und moderne Software hat erheblich mehr Ähnlichkeit mit den einzigartigen Brückenbauten auf dieser Welt als mit den Bauprojekten von Viebrock und anderen Anbietern von Eigenheimen. Dazu schreibe ich vielleicht einen zweiten Baublog.
Erstaunlicherweise ist dies kein Allgemeinplatz. Auch im Jahr 2020 wird von Softwareprojekten erwartet, dass Pläne gemacht und umgesetzt werden, Budgets eingehalten, Zeitvorgaben erreicht werden. Ein Verständnis für die Unwägbarkeiten der modernen Softwareentwicklung fehlt zuweilen völlig. Hinzukommt, dass die Möglichkeiten, die wir als Softwareentwickler haben, mit jedem Jahrzehnt exponentiell gewachsen sind. Wer glaubt, aus dem Erfolg eines Projekts aus dem letzten Jahrzehnt auf den unumgänglichen Erfolg eines neuen Projekt setzen zu können, der wird sehr oft mit Enttäuschung umgehen lernen müssen. Und dann kommt neuerdings hinzu, dass alles mit allem verbunden ist oder sein soll.
Von erfolgreichen Betonbauern könnten wir lernen, dass Agilität und gute, kooperative Zusammenarbeit zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer keine Mittel sind, um initiale Pläne umzusetzen, sondern die Schlüssel, um mit den ganzen Unbekannten auf eine Weise umzugehen, die im Sinne der Kunden und des Geschäfts ist.